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FREITAG & SELBSTORGANISATION
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Bitte Fotocredit angeben: Roland Tännler
Alpha, Beta, … Holacracy
Seit 1993 ist FREITAG kontinuierlich, mal mehr, mal weniger rasant und insgesamt sehr gesund von einer Zweierkiste zu einem 200 F-Workers starken KMU gewachsen. Je mehr Modelle entwickelt, je mehr Märkte erobert, je mehr Taschen verkauft wurden, desto mehr nahm die Komplexität innerhalb von FREITAG zu. Auch wenn über die Jahre Vieles unkonventionell blieb: Das einstige Studenten-Start-Up war bald ganz klassisch organisiert, mit CEO, Geschäftsleitung und Abteilungen, die sich entlang des Fertigungsprozesses formierten. Unversehens nahm FREITAG damit Kurs auf organisatorische Probleme, die uns Jahre später einholen sollten.
Irgendwann stellten wir nämlich fest, dass unsere Organisationsstruktur und viele unserer Abläufe umständlich und träge geworden waren. Während sich unser Marktumfeld zunehmend schneller veränderte, war unsere Anpassungsfähigkeit geschrumpft. Was war passiert?
Keine Lust, weiterzulesen?
Pascal hat das alles auch mal in diesem Podcast erzählt.
Die klassisch hierarchische Organisationsstruktur hatte über die Jahre dazu geführt, dass viele Entscheidungen in der Geschäftsleitung getroffen wurden, obwohl dafür eigentlich Spezialisten in den Abteilungen sassen. Das kleine Gremium der Geschäftsleitung war zum Flaschenhals geworden, und die Spezialisten waren frustriert.
Dazu kam, dass die Abteilungen zunehmend wie Silos funktionierten: Anstelle der direkten abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit von Spezialisten blieb oft nur der Umweg über die Hierarchieleiter hoch zu den Abteilungsleitern und wieder runter zu den Spezialisten. Interdisziplinär agierende Rollen wie die Produktmanager hatten es schwer, auf ihrem Weg quer durchs Unternehmen zum Ziel zu kommen.
Markus und Daniel Freitag haben als Gründer und Inhaber unserer Firma nie eine Leidenschaft für die klassischen Manager-Jobs entwickelt. Als gelernte Dekorationsgestalter und Grafiker lagen ihnen die kreativen Prozessen schon immer näher. Gleichzeitig waren sie dadurch über die Jahre immer wieder auf der Suche nach ihrem Platz in der eigenen Firma. Über die Jahre reifte so die Erkenntnis, dass wir unsere Organisation fundamental umkrempeln mussten, um langfristig Freude an der Arbeit und wirtschaftlichen Erfolg zu haben.
Alpha, Beta, …
Anfang 2015 begannen wir damit, unsere Organisation radikal zu verändern. Weg von hierarchisch organisierten Abteilungen, die wie eine Maschine auf die Verrichtung der immer gleichen Arbeit getrimmt sind. Hin zu einem Aufbau nach dem Vorbild einer Stadt, mit funktionalen, beherzt geführten und selbstorganisierten Zellen.
Am Bild der Stadt faszinierte uns, dass man gemeinhin von einem Anstieg der Produktivität pro Einwohner*in ausgeht, wenn eine Stadt ihre Grösse verdoppelt. Bei Unternehmen schien es genau umgekehrt zu sein: je grösser ein Unternehmen, desto geringer die Produktivität.
Unser Ziel war es, FREITAG gemeinsam mit allen F-Workers zu einer kulturell spannenden, produktiven, lebenswerten Stadt zu entwickeln, die für ihre Bewohner, ihre Besucher und ihre Umgebung einen wunderbaren Ort darstellt, an dem man sich gerne aufhält, und der weltweite Ausstrahlung hat.
Also lösten wir unser klassisches Organigramm durch ein Stadtbild ab. Und um den Flaschenhals der Geschäftsleitung zu eliminieren und gleichzeitig ein starkes Zeichen für das «Empowerment» der F-Workers zu setzen, schafften wir die Geschäftsleitung kurzerhand ab. An ihre Stelle traten die genannten selbstorganisierten Zellen - in unserem Stadtbild wurden sie zu Gebäuden - und eine Meeting-Struktur, die alle wichtigen Stakeholder eines Themas in den Entscheidungsprozess einzubinden versuchte. Die Rolle eines weisungsbefugten CEO's wurde damit überflüssig, und die ehemaligen Mitglieder der Geschäftsleitung verstanden sich fortan nicht mehr als Chefs, sondern als Coaches. Unser neues Organisationsmodell nannten wir schlicht «Beta».
«Transparente Kommunikation ist eine zentrale Voraussetzung für Selbstorganisation.»
Damit alle Mitarbeitenden verstanden, in welche Richtung sich FREITAG entwickeln sollte, wurde ein unternehmensweiter Vorgehensplan zum zentralen Steuerungselement. Alle internen Perspektiven waren fortan in die Erarbeitung dieses Plans eingebunden, auf den sich anschliessend das ganze Unternehmen ausrichtete. In Analogie zum Marktplatz der Stadt bekam er seine eigene Fläche in unserer Fabrik.
... Holacracy
Unserer Reise Richtung Selbstorganisation war vielversprechend gestartet. Gleichzeitig verlangte die Transformation viel Energie, so viel, dass uns der anfängliche Schwung nach einigen Monaten abhanden kam. Viele Fragen blieben so ungelöst: Wie verlaufen Karrieren ohne klassische Karriereleiter? Wer qualifiziert, wenn es keine Chefs mehr gibt? Wie gestalten wir unserer Meetings effizienter? Nach welchen Regeln entwickelt sich die Stadt weiter?
Dass wir mit diesen Fragen nicht allein sein konnten, schien uns klar. Auf der Suche nach organisatorischen Wegen, um Autorität zu verteilen, Entscheidungsprozesse zu vereinfachen, Hierarchien abzubauen und die Agilität zu erhöhen, stiessen wir schliesslich auf Holacracy. Und nachdem wir uns eingehender damit auseinandergesetzt hatten, entschieden wir uns im September 2016, Holacracy als organisatorisches Betriebssystem bei FREITAG einzuführen.
«Überzeugt hatte uns, dass Holacracy Autorität quer durch die ganze Firma in Form von Rollen verteilt, anstatt sie bei persönlichen Vorgesetzten zu bündeln.»
Die Organisationsstruktur ist nicht starr, sondern alle Mitarbeitenden können sie mittels klarer Prozesse fortwährend den Bedürfnissen anpassen. Und strukturierte Meetings sorgen für eine regelmässige, effiziente Synchronisation der voneinander abhängigen Rollen.
Die Tätigkeiten, die für das Bestehen eines Unternehmens wichtig sind, werden in Form von Rollen formuliert. Zusammengehörige Rollen werden in Form von Kreisen organisiert. Kreise und Rollen haben jeweils einen Purpose (Zweck), der sich am übergeordneten Purpose des Unternehmens orientiert. Ausgehend von ihrem Purpose, werden Kreisen und Rollen Verantwortlichkeiten zugeschrieben.
Hierarchie der Spezialisten
Rolleninhaber und Kreise treffen Entscheidungen im Rahmen ihrer Verantwortlichkeiten. Dass es keine persönlichen Vorgesetzten oder Chefs mehr gibt, heisst aber nicht, dass Holacracy ohne Hierarchie ist, im Gegenteil: Holacracy ist stark hierarchisch, aber konsequent aus fachlichen Rollen heraus. Die Hierarchie ist also über das ganze Unternehmen verteilt. Und alle Beteiligten können sie jederzeit über den Governance Prozess verändern. Der Stand unseres Organigramms, das du gleich unterhalb siehst, ist deshalb auch genau von 17.04.2019, um 14:35 Uhr. Heute abend sieht alles vielleicht schon ganz anders aus.
Kreise verfügen standardmässig über zwei Kernrollen, die sie mit dem nächsthöheren Kreis verbinden: Die Rolle «Lead Link» trägt Informationen in den Kreis hinein, setzt Prioritäten und besetzt Rollen. Die Rolle «Rep Link» trägt Begehren aus dem Kreis nach aussen und hat beispielsweise die Aufgabe, Einschränkungen aufzuheben, die aus der Governance des nächsthöheren Kreises resultieren.
Zusätzlich verfügen die Kreise standardmässig über die Rollen «Facilitator» und «Secretary», die bei den Meetings zum Einsatz kommen:
Im «Tactical Meeting» geht es darum, dass sich die Kreismitglieder synchronisieren, indem sie Informationen austauschen und gegebenenfalls nächste Schritte definieren, um die daraus entstehenden Herausforderungen anzugehen.
Im «Governance Meeting» geht es darum, die Organisationsstruktur zu optimieren, in dem Rollen, Kreise oder Policies (Richtlinien für die Zusammenarbeit) geschaffen, aufgelöst oder verändert werden.
Die kontinuierliche Arbeit an der Organisationsstruktur folgt einem integrativen Entscheidungsprozess. Dieser erlaubt es den Kreismitgliedern, Einwände zu Veränderungsvorschlägen einzubringen und prüft nach einem klar definierten Ablauf die Validität dieser Einwände. Valide Einwände werden in die Vorschläge integriert.
Medienstimmen
Eine niemals endende Reise
Haben sich unsere Hoffnungen erfüllt? Welches waren für uns die wichtigsten Elemente für die erfolgreiche Transformation? Was sind aus heutiger Sicht die Vorteile von Holacracy? Und wo lagen die grössten Hürden?
Der Entscheid, auf Holacracy zu setzen, scheint uns auch aus heutiger Sicht richtig. Das vorgefertigte Organisationssystem mit klaren Regeln befreite uns von einer Reihe ungeklärter Fragen, die aus der selbst initiierten «Beta»-Organisation entstanden waren. Rückblickend war das «Beta»-Experiment dennoch ein wichtiger erster Schritt, denn es sensibilisierte uns für die Herausforderungen von Selbstorganisation.
Bewährt hat sich auch, während der Einführungsphase von Holacracy externe Hilfe beizuziehen: Um eine neutrale Instanz für Zweifel, Fragen und Unsicherheiten zu etablieren, liessen wir uns in den ersten Monaten von Berater*innen der Agentur Dwarfs & Giants begleiten.
«Die Transformation Richtung Selbstorganisation ist längst nicht abgeschlossen. Im Gegenteil!»
Die Transformation scheint uns heute als Weg, der mal steinig, mal blumig ist, aber immer weiterführt. Wo der Weg hinführt und wie sich Holacracy bei FREITAG weiter entwickeln wird, wissen wir nicht. Was wir aber wissen: Wir haben nun Regeln und Prozesse, die darauf ausgerichtet sind, dass wir uns laufend weiterentwickeln. Die einst proklamierten «funktionalen, beherzt geführten und selbstorganisierten Zellen» sind Wirklichkeit geworden.
Agilität bedeutet in diesem Sinn nicht nur, dass Mitarbeitende mit Veränderungen umgehen können. Agilität bedeutet, dass Mitarbeitende Veränderungen selber initiieren, um uns weiterzubringen.